Daniel Jonah Goldhagen: Die katholische Kirche und der Holocaust. Eine Untersuchung über Schuld und Sühne (2024)

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Spätestens seit Anfang der sechziger Jahre, als Rolf Hochhuths Dokumentartheater "Der Stellvertreter" Skandal machte, ist bekannt, welch unselige Rolle die katholische Kirche und ihr damaliges Oberhaupt Papst Pius XII. in den Zeiten des Holocaust gespielt haben. Niemand kann seitdem ernsthaft bestreiten, dass der Vatikan mit seiner Beschweigsamkeit große Schuld auf sich geladen hat. Doch das geht dem amerikanischen Bestseller-Historiker Daniel Goldhagen nicht weit genug. In seinem jüngsten Werk "Die katholische Kirche und der Holocaust" radikalisiert er die Kritik am organisierten Katholizismus.

Peter Hertel |

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    "Nachdem die Alliierten am 4.Juni 1944 Rom befreit hatten, deportierten die Deutschen nach und nach die Juden des von ihnen besetzten Triests. Der Papst und der Vatikan waren völlig außer Gefahr. ... Doch auch jetzt tat Pius XII. absolut nichts, um den Triester Juden zu helfen."

    Papst Pius XII., behauptet der jüdische Politikwissenschaftler Daniel Goldhagen, habe zugesehen, weil er ein Antisemit gewesen sei. Er habe Schuld auf sich geladen. Richtig ist, dass er und die katholische Kirche Mitschuld tragen am Holocaust, dem generalstabsmäßig geplanten und durchgeführten Völkermord der Nazis. Zahlreiche Kirchenführer tolerierten das Nazi-Regime, ja, sie sympathisierten oder kooperierten sogar mit ihm. Fast immer heißt es indes, die kirchliche Schuld liege vor allem im Schweigen, im Wegschauen, in diplomatischem Kalkül, aber nicht in aktiver Teilnahme. Goldhagen geht weiter. In seinem Buch erhebt er den kühnen Vorwurf, die katholische Kirche habe den "eliminatorischen Antisemitismus" der Deutschen abgesichert, auf den die Nazis ihre Verbrechen gründeten und ein Teil ihres Klerus habe sich sogar aktiv beteiligt.

    Die katholische Kirche hat ... den Juden ... vorsätzlich, aktiv und konsequent Schaden zugefügt und ihrem Leiden Vorschub geleistet, vom ungeheuren Ausmaß des Unrechts und Leidens ganz zu schweigen.

    Mit dem "eliminatorischen Antisemitismus" hatte sich der jüdische Autor bereits vor sechs Jahren in seinem Erstling "Hitlers willige Vollstrecker" auseinandergesetzt. Auch diesmal darf er als Pluspunkt verbuchen, dass er eine öffentliche Diskussion angestoßen hat. Aber die Kritik ist schärfer als damals; denn viele Belege, auf die er seine Thesen stützt, stimmen überhaupt nicht. Das wichtigste Beispiel: Den Antisemitismus Pius' XII. belegt Goldhagen mit einem einzigen Briefzitat, das er aber zu höchster Bedeutung emporstilisiert. In diesem Brief, den Eugenio Pacelli 1919 während der Münchner Räterepublik verfasste, habe der spätere Pius XII. sein wahres Gesicht gezeigt; denn er habe das Dokument nicht für die Öffentlichkeit, sondern vertraulich geschrieben. Der "krasse Antisemitismus", dem dieser Papst verfallen sei und den er hier in Worte gefasst habe, sei seine beständige Einstellung gewesen. Goldhagen zitiert den Brief:

    ... in der Mitte ... [der Münchner Residenz] lungert eine Bande von jungen Frauen von zweifelhaftem Aussehen, Juden, wie sie alle, mit provokativem Benehmen und zweideutigem Grinsen in den Büros herum. Die Chefin dieses weiblichen Abschaums war Leviens Gefährtin: eine junge Russin, Jüdin und geschieden... Dieser Levien ist ... ebenfalls Russe und Jude. Blass, schmutzig, mit von Drogenmissbrauch gezeichneten Augen, rauher Stimme, vulgär, abstoßend, mit einem Gesicht, das gleichzeitig intelligent und verschlagen wirkt.

    Laut Goldhagen gleicht diese "einzige relativ ausführliche Äußerung Pius' XII. über Juden" einem "Trommelfeuer von antisemitischen Stereotypen und Vorwürfen", die "dämonisierenden Ansichten über Juden" würden "mitschwingen".

    Die Elemente von Pacellis antisemitischer Collage ähneln stark denen, die Julius Streicher der deutschen Öffentlichkeit bald in jeder Nummer seines berüchtigten NS-Wochenblattes Der Stürmer bieten sollte.

    Die Sache ist anscheinend klar: Pius XII., der Chef: ein Antisemit; seine Kirche: eine antisemitische Institution. Doch Goldhagen hat es sich leicht gemacht: Das italienische Originalzitat hat er nicht eingesehen, sondern eine Übersetzung übernommen. Und das ging schief: Die Übersetzung ist nämlich gefälscht, gespickt mit antisemitischen Klischees, offenbar um Pius XII. bereits für das Jahr 1919 Sprachgut zu unterstellen, das später auch die Nazis verwandten. Pacelli schrieb in Wirklichkeit nicht von einer "Bande", sondern von "einer Reihe" jüdischer Frauen. Er befand nicht: "weiblicher Abschaum", sondern: "weibliche Gruppe"; nicht "Grinsen", sondern "Lächeln". Das Wort "Drogenmissbrauch" ist gar frei erfunden und in den Text hineingemogelt. Und auch das Nazi-Stereotyp: "Alle Juden sind Bolschewiken", das Goldhagen dem Papst anlastet, ergibt sich nicht aus dem Original. Dort steht nicht: "alle" Juden, sondern nur: die "oben genannten".

    Sehr peinlich für den Wissenschaftler Goldhagen, der auch an anderen Stellen schlampig arbeitet. Die katholische Kirche habe aus dem Holocaust praktisch nichts gelernt, weiß er. Jedenfalls sei das Zweite Vatikanische Reformkonzil, dessen Beschlüsse für die Kirche von heute maßgeblich sind, "im Verhalten gegenüber den Juden nur ein kleines Stück" (268) vorangekommen. Grund: der fortschrittliche Papst Johannes XXIII. sei leider vor dem Konzil gestorben. In Wirklichkeit jedoch starb er während des Konzils, nachdem er dessen sog. "Judenerklärung – Nostra aetate" in den Konzilsdebatten entscheidend beeinflusst hatte.

    Berechtigter Kritik weicht der Wissenschaftler aus: er habe gar "kein umfassendes historisches, wissenschaftliches" Werk verfaßt. Entscheidend sei seine "moralische Prüfung der katholischen Kirche". Damit sollten sich Kritiker auseinandersetzen, anstatt ihm Fehler in seinen Quellen vorzuhalten.

    Für sein Buch ist das keine Empfehlung. Doch folgen wir mal - trotz des brüchigen Fundaments - dem Wunsch des Autors und werfen einen Blick in das Gebäude seiner moralischen Prüfung. Er hat sie auf zwei Sockeln errichtet: Erstens setzt er, die Laien vernachlässigend, die katholische Kirche mit ihren Hirten – mit Papst und Bischöfen, gelegentlich auch mit dem Klerus – gleich.

    Die Kirche ist der Hirte, die Katholiken sind ihre Herde.

    Zweitens versteht er die katholische Kirche als politische Einrichtung.

    Die katholische Kirche sollte im Allgemeinen und speziell in ihren Beziehungen zu Juden als das anerkannt werden, was sie seit jeher war – auch in der NS-Zeit – und noch immer ist: eine politische Institution. Der Papst war und ist ein politischer Führer.

    Katholische Laien werden sich verwundert die Augen reiben, wenn sie lesen, sie gehörten nicht zur Kirche; und ihre Kirche sei primär nicht eine religiöse, sondern eine politische Gemeinschaft, ja sogar die "größte autoritäre politische Institution der Welt". Deshalb sei selbst an ihre Kultur und Liturgie die politische Messlatte zu legen. Andererseits: Goldhagens radikaler Ansatz legt eine Kirchenstruktur offen, die schon seit langem von kritischen Katholiken attackiert wird: Papst und Bischöfe fällen die letztverbindlichen Entscheidungen, und mit dem Vatikan – exakter: dem Heiligen Stuhl - bewegt sich die katholische Kirche auf der staatlichen, völkerrechtlichen Ebene. Der Politologe folgert vor diesem Hintergrund, dass die katholische Kirche den "jüdischen Opfern Geld" schulde und sich die Bundesrepublik Deutschland, deren Schuld natürlich viel größer sei, zum Vorbild für finanzielle Wiedergutmachung nehmen solle.

    Die politische Wiedergutmachung verlangt von der Kirche, dass sie jüdische politische Gemeinschaften tatkräftig unterstützt, stärkt und schützt.

    Zum Beispiel den Staat Israel. Darüber hinaus solle die politische Institution Kirche wirklich Reue über den begangenen moralischen Verrat an den Juden zeigen und das Neue Testament von judenfeindlichen Aussagen säubern.

    Aber nicht nur biblischer Hass gegen die Juden, sondern auch politische Zwänge, so schreibt Goldhagen zu Recht, hätten dazu beigetragen, dass die katholische Kirche zu Nazi-Gräueln geschwiegen und Schuld auf sich geladen habe. Sie habe sich mit den staatlichen Herrschern arrangiert, ihnen gedient, anstatt sie anzuklagen. Daraus leitet er die Folgerung ab, die katholische Kirche solle sich von politischen Fesseln befreien, sich aus der aktiven Politik zurückziehen und den Vatikanstaat sowie die diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten aufgeben. So werde sie glaubwürdiger.

    Solche Forderungen sind zwar nicht neu, aber gleichwohl notwendig. Indes würde der politische Ankläger und moralische Richter Daniel Goldhagen sie überzeugender vertreten können, wenn er in einer grundlegenden Neufassung des Buches seine Versäumnisse nachholen und seine Fehler korrigieren würde.

    Daniel Jonah Goldhagen: "Die katholische Kirche und der Holocaust - Eine Untersuchung über Schuld und Sühne". Der Band ist im Berliner Siedler Verlag erschienen, umfasst 476 Seiten und kostet 24,90 Euro.

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