Die Goldhagen-Debatte in Deutschland - eine Zusammenfassung | ZbE (2024)

Nachdem einleitend der Gegenstand der Goldhagen-Debatte skizziert wird, gehe ich dazu über, Goldhagens Thesen kurz darzustellen. Im Anschluss möchte ich die wissenschaftliche Kritik (unabhängig ihres Wahr- bzw. Falschheitsgehaltes) zitieren, um dann die Debatte in Deutschland zu rekonstruieren. Selbstredend sind alle Darstellungen der erwähnten Bücher und Artikel immer auch etwas verkürzt und eingeschränkt. Das hier Geschriebene kann und soll die Lektüre von Goldhagen, Browning und anderen Werken nicht ersetzen, sondern im Gegenteil das Interesse daran wecken und zum eigenen Lesen anregen.

Am 12. April 1996 veröffentlichte die Wochenzeitung „DIE ZEIT“ einen deutschsprachigen Vorabdruck aus einer amerikanischen Studie von Daniel Jonah Goldhagen zur Shoa bzw. einer Untersuchung über die Motivation der Täter. Das Original erschien erst zwei Wochen vorher in New York unter dem Titel „Hitlers Willing Executioners. Ordinary Germans and the Holocaust“. In dieser ersten überregional wahrgenommenen Veröffentlichung wurde bereits auf die „provozierenden“ Thesen hingewiesen und man sah in Deutschland einen neuen „Historikerstreit“ heraufziehen (M. Kött, Goldhagen in der Qualitätspresse, S. 7). In Deutschland erschien das Werk dann erstmals im Spätsommer 1996.

Die Motivation der Täter

In der Studie von Goldhagen, die gleichzeitig seine Dissertation ist, stellte er sich die Frage, warum die Shoa in Deutschland möglich war und untersuchte dabei die Motivation der Täter, die seiner Ansicht nach keineswegs ausreichend beleuchtet sei. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe schreibt er: „Ich vermeide dabei jedoch ahistorische und allgemeine sozialpsychologische Erklärungen – etwa dass sich Menschen der Macht beugen oder aufgrund von Gruppendruck zu allem bereit sind -, die gleichsam reflexhaft angeführt werden, sobald es um die Handlungsweisen der Täter geht. Statt dessen werden die Handelnden hier als Individuen betrachtet, als Wesen, die ihre Überzeugungen hatten und deshalb auch in der Lage waren, die Politik ihrer Regierung zu bewerten und ihre Entscheidungen danach auszurichten, und zwar Entscheidungen, die sie sowohl als Einzelne als auch als Kollektive trafen.“ (D. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 5) An dieser Stelle grenzt er sich gegen bisherige Studien wie z. B. von Christopher Brownings „Ganz normale Männer“ ab, in der die Morde durch das Polizeibataillon 101 (das gleiche Quellenmaterial benutzte auch Goldhagen) nicht mit einem stark ausgeprägten Antisemitismus der Deutschen erklärt werden, sondern eher mit sozialpsychologischen (Autoritätshörigkeit, Entmenschlichung im Krieg, etc.) Elementen. Goldhagen geht im Gegensatz dazu von einem „eliminatorischen Antisemitismus“ der Naziführung und der gewöhnlichen Deutschen – zumindest eines sehr großen Teils – aus, der die Hauptursache des Mordens gewesen sei: „Die antisemitischen Auffassungen der Deutschen waren die zentrale Triebkraft für den Holocaust.“ (ebda., S. 22) Goldhagen verweist zwar auch darauf, dass „monokausale“ Erklärungen dem Gegenstand nicht „angemessen“ seien, erklärt aber die Motivation zum Töten aus einer „einzigen gemeinsamen Quelle“, nämlich einem „bösartigen Antisemitismus“ (ebda., S. 8). Daniel Goldhagen geht somit in der Forschung einen Weg, der weder intentionalistisch (kurz: Hitler und die NS-Führung ordneten die Vernichtung an) noch funktionalistisch (kurz: Kumulative Radikalisierung des Regimes führten zur Vernichtung) genannt werden kann.

Goldhagens Thesen

Daniel Goldhagen geht – wie gesagt – von einem eliminatorischen Antisemitismus aus, der die Deutschen dazu brachte, Juden zu demütigen, zu quälen, zu töten und zu vernichten. Sein Hauptaugenmerk ist dem einzelnen handelnden Individuum gewidmet. Die bisherigen Erklärungsmuster wie etwa unmittelbarer Zwang zum Ausführen der Tötungsbefehle oder Staatshörigkeit der Deutschen sind für Goldhagen keine hinreichenden Gründe. Goldhagen setzt u. a. dagegen: Nachweislich wurde niemand bestraft, wenn er Befehle zum Mord verweigerte. Von der Autoritätshörigkeit der Deutschen war in der Weimarer Republik häufig nichts zu spüren.

Dieser „bösartige Antisemitismus“ kam auch nicht mit den Nazis über die Deutschen, sondern war elementarer Bestandteil der deutschen Kulturgeschichte. Ein Teil des Buches befasst sich mit der historischen Genese des Antisemitismus in Deutschland. Goldhagen weist dabei nach, dass Antisemitismus wichtigstes Bindemittel der deutschen Nationwerdung war. Der „Jude“ bzw. das „Jüdische“ stellten die völlige Negation des Deutschen dar. Dabei geht er nicht „nur“ auf die bekannten antisemitischen Äußerungen bzw. Schriften von Martin Luther oder Heinrich von Treitschke et al. ein, sondern weist auch den „Liberalen“ (z. B. Christian Wilhelm von Dohm, der 1781 die Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ schrieb) nach, dass ihr Bild des Jüdischen, „… mit dem der Antisemiten in wesentlichen Zügen übereinstimmt“ (ebda., S. 81). Selbst viele Gegner (z. B. Pastor Niemöller) des NS-Regimes stimmten mit „der nationalsozialistischen Weltsicht in einem wesentlichen Punkt überein: Die Juden waren das ewige Übel.“ (ebda., S. 143)

Goldhagen untersucht die „Tätigkeit“ eines Polizeibataillons, die Vernichtung durch Arbeit in Arbeitslagern und die Todesmärsche am Ende des Krieges. Das Polizeibataillon 101 bietet einen repräsentativen Querschnitt durch die deutsche „Normalbevölkerung“ jener Zeit. Wichtig ist, dass man die Ordnungspolizei keineswegs als „nationalsozialistische, von den Vorstellungen des Regimes geprägte Institution“ (ebda., S. 223) bezeichnen kann. Im Polizeibataillon 101 gehörten „96 Prozent“ nicht zur SS, die Mitglieder waren keine „auffällig nazifizierte Gruppe“, sondern waren vielmehr „ganz gewöhnliche Deutsche“ (ebda., S. 249). In vielen Fällen taten sich die Polizeibataillone als besonders sadistische und grausame Judenmörder hervor. Goldhagen behauptet aber, die Männer seien keine Sadisten an sich gewesen, sondern ausschließlich Sadisten gegen Juden. Er zitiert Befehle, in denen hinsichtlich der Gesundheit der Polizeihunde Sorge geäußert wurde, während man die Juden jagte. „Das war die bizarre Realität des nationalsozialistischen Deutschland: Sorge um Tiere auf der einen, Gnadenlosigkeit und Grausamkeit gegenüber Juden auf der anderen Seite.“ (ebda., S. 320) Insgesamt fielen den Polizeibataillonen (durch direkte Mitwirkung) etwa zwei Millionen jüdische Menschen zum Opfer.

Goldhagen argumentiert weiter, dass die Juden in den Arbeitslagern die niedrigste Stellung „inne“ hatten. Sie wurden Opfer einer besonders grausamen und demütigenden Behandlung durch die Wachen. Für die Nationalsozialisten bildete die „deutsche, schaffende Arbeit“ einen zentralen Bezugspunkt ihrer Ideologie. Dagegen stand das „jüdische Parasitentum“, die Nicht-Arbeit oder auch das „raffende Kapital“. Für die Nazis stand nicht die Ausbeutung der jüdischen Arbeiter und Arbeiterinnen im Vordergrund, sondern die Arbeit zur Vernichtung. „Objektiv betrachtet verstieß jüdische `Arbeit´ während der NS-Zeit derart gegen jedes rationale Verständnis von Arbeit und entsprechende Arbeitsweisen, daß es dafür in der Geschichte der modernen Industriegesellschaft keine und selbst in der Geschichte der Sklavenhaltergesellschaften kaum Parallelen gibt. Sie war ein integraler Bestandteil des Vernichtungsprozesses.“ (ebda., S. 376, 377)

Zum Abschluss geht Goldhagen auf die Todesmärsche ein. Spätestens jetzt – der Krieg war so gut wie verloren – hätte doch menschliche Empathie mit den jüdischen Opfern einsetzen müssen, wenn die Deutschen nur aus Zwang gehandelt hätten. Auch hier gilt, dass die Aufseher der Todesmärsche keineswegs besonders „qualifiziert“ waren. „Wenige von ihnen gehörten der SS an, und die meisten waren noch nicht einmal Mitglied der NSDAP.“ (M. Klundt, Geschichtspolitik, S. 26) Die Grausamkeit der Deutschen gegenüber ihren jüdischen Opfern nahm aber keineswegs ab. In den Augen der Wächter waren die Juden (durchaus im Gegensatz zu den nichtjüdischen Opfern) noch nicht einmal „Untermenschen“, sondern überhaupt keine Menschen. Goldhagen versucht dies am Beispiel des Todesmarsches von Helmbrechts zu verdeutlichen: „Innerhalb mehrerer Monate starb in Helmbrechts nicht eine russische Gefangene an Hunger oder an damit verbundenen Krankheiten. Doch von den Jüdinnen starben in den nur fünf Wochen, die sie dort verbrachten, 44.“ (D. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 404) Letztlich forderten die Todesmärsche „zwischen 250 000 und 375 000 Opfer“. (ebda., S. 388)

Kritik an Goldhagens Thesen

Im Folgenden sollen die Hauptstränge der Kritik (geäußert von prominenten Historikern) an Goldhagens Thesen skizziert werden. Die Auseinandersetzung mit der Thematik ist keineswegs abgeschlossen und können auch nur angerissen werden. Urteile über den Wahrheitsgehalt der Kritiken können hier nicht dargestellt werden, da dieses Unterfangen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung bedarf. Ich unterscheide hier zwischen wissenschaftlich geäußerter Kritik an Goldhagen und Thesen, die dem deutschen Geschichtsrevisionismus in die Hände spiel(t)en (wobei die Grenze keineswegs strikt gezogen werden kann). Ein Beispiel für letzteres ist Norman Finkelstein. Durch seine Thesen zur „Holocaust-Industrie“ und den Tiraden gegen Israel hat sich dieser – in meinen Augen – selbst desavouiert.

Ruth Bettina Birn, die Leiterin des Archivs für NS-Verbrechen in Ludwigsburg (aus dessen Bestand die Akten stammen, derer sich Goldhagen bedient) stützt sich vor allem auf quellenkritische Argumente. Goldhagen würde nur selektive Akten zitieren, bewege sich häufig in der Spekulationsform und werde somit unglaubwürdig (http://de.wikipedia.org/wiki/Daniel_Goldhagen#Die_Kritik_von_Ruth_Bettina_Birn, zugegriffen am 21.04.2008). Aufgrund zum Teil scharfer und unangemessener Kritik kam es sogar zu einem Rechtsstreit zwischen Birn und Goldhagen (W. Wippermann, Goldhagen und die deutschen Historiker, S. 19, in: J. Elsässer, A. S. Markovits, Die Fratze der eigenen Geschichte).

Der Historiker Hans Mommsen machte primär formale Einwände geltend. Er warf Goldhagen vor, nicht „promoviert“ zu haben. Mommsen spricht (ähnlich wie Birn) Goldhagen die „wissenschaftlichen Fähigkeiten“ (M. Klundt, Geschichtspolitik, S. 36) ab, erkennt aber durchaus Diskussionsbedarf hinsichtlich des Antisemitismus als Motivation für die Mordtaten an. Eberhard Jäckel bezeichnete in einem Artikel das Goldhagen Buch einfach als „schlechtes Buch“, da es keineswegs wissenschaftlichen Standards genüge (E. Jäckel, Einfach ein schlechtes Buch, S. 187, in: J. Schoeps (Hg.), Ein Volk von Mördern). Hans-Ulrich Wehler ist in seinem Urteil wesentlich „objektiver“. Einerseits lobt er z. B. die „Annäherung an individuelle Täter jenseits der anonymisierenden Betrachtung“ (ebda., S. 37), andererseits wirft er Goldhagen Monokausalität und auch „Quasi-Rassismus“ (H.-U. Wehler, Wie ein Stachel im Fleisch, S. 200, in: J. Schoeps (Hg.), Ein Volk von Mördern) gegen die Deutschen vor. Julius H. Schoeps stimmt Goldhagen zu, wenn er auf die lange Tradition des „Vernichtungsantisemitismus“ in Europa hinweist. Die Holocaust Forscher Raul Hilberg und Yehuda Bauer kritisierten ebenfalls die formalen Mängel in Goldhagens Studie.

Christopher Browning legte sehr differenzierte Texte zu Goldhagen vor. In seinem Buch „Ganz normale Männer“ ist in der Neuauflage ein Nachwort erschienen, in denen er sich mit Goldhagens Thesen auseinandersetzt. Er entkräftet zunächst die Annahme, dass der Antisemitismus der Deutschen alleine als Erklärung für die Motivation der Täter und Täterinnen ausreicht. Browning erwähnt u. a. die emotionalisierende Darstellung von Grausamkeiten. Goldhagen „liefert zahlreiche anschauliche und bedrückende Schilderungen deutscher Grausamkeit gegenüber Juden und versichert dem betäubten und entsetzten Leser, daß ein solches Verhalten zweifellos ohne Beispiel sei. Wenn es doch nur so wäre. Unglücklicherweise würden Berichte über von Rumänen und Kroaten begangene Mordtaten leicht zeigen, daß diese Kollaborateure den Deutschen an Grausamkeit nicht nur ebenbürtig waren, sondern sie regelmäßig darin übertrumpften. Unzählige andere Beispiele abseits des Holocaust, von Kambodscha bis Ruanda, mögen unberücksichtigt bleiben.“ (C. Browning, Ganz normale Männer, S. 271) Browning untermauert seine These noch mit Beispielen, wie etwa mit der Todesrate unter sowjetischen Kriegsgefangenen zu Beginn des „Unternehmens Barbarossa“. Ca. 2 Millionen sowjetische Kriegsgefangene wurden in den ersten neun Monaten des Vernichtungskrieges getötet. Die Todesrate lag somit weit höher als in den Ghettos vor der Endlösung. Auch das Polizeibataillon 101 wird von Browning „vielschichtiger“ (ebda., S. 283) dargestellt als von Goldhagen. „In wachsendem Maße abgestumpft und brutalisiert, hatten diese Männer mehr Mitleid mit sich selbst wegen der ihnen zugewiesenen `unangenehmen´ Arbeit als mit ihren entmenschlichten Opfern. Im großen und ganzen dachten sie nicht, daß das, was sie taten, falsch oder unmoralisch sei, war doch das Morden durch die legitime Autorität sanktioniert.“ (ebda., S. 282) Einig ist er sich mit Goldhagen aber in der Tatsache der weit reichenden „Teilnahme zahlreicher gewöhnlicher Deutscher an der massenhaften Ermordung von Juden“ und in dem „hohen Maß an Freiwilligkeit“ (C. Browning, Dämonisierung erklärt nichts, in: J. Schoeps (Hg.), Ein Volk von Mördern, S. 118) dabei.

Die eigentliche Goldhagen-Debatte in Deutschland

Während die Reaktionen im Ausland meist zustimmend-differenziert waren, kann man in Deutschland in erster Linie von einer „ressentimentbeladenen Vehemenz“ (M. Klundt, Geschichtspolitik, S. 41) des Großteils der Reaktionen sprechen. Das Buch von Julius H. Schoeps, „Ein Volk von Mördern“, ist ein Sammelband, in dem viele deutsche und internationale Aufsätze und Artikel zu Goldhagen erschienen sind. Einiges möchte ich daraus kurz zitieren, um die eher positive Reaktion im Ausland als Einstieg zur deutschen Debatte zu verdeutlichen. In den USA und Großbritannien sprach man von einer „großen Leistung“ (R. Harris, S. 21), einem „interessanten Buch“ mit „wertvollem Material“, das dem Leser aber auf „abschreckende Weise“ präsentiert wird (P. Johnson, S. 28). Trotz einiger methodischer Mängel, machen „die Fülle seines Materials und die bestechende Logik sie vergessen“ (R. Bernstein, S. 33). Elie Wiesel nannte es einen „beachtlichen Beitrag zum Verständnis und zu Vermittlung des Holocaust.“ (S. 44) A. M. Rosenthal betont den „bleibenden Wert des Buches“ (S. 53) darin, dass eben kein Zwang notwendig war, um die deutsche Mordmaschinerie in Gang zu setzen bzw. in Gang zu halten.

Die eigentliche Debatte in Deutschland begann – wie oben erwähnt – mit dem Vorabdruck in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“. Die allerersten Reaktionen waren „überwiegend kritisch bis abwehrend“ (M. Kött, Goldhagen in der Qualitätspresse, S. 8) resümierte „DIE ZEIT“. Schon bevor es das Buch überhaupt im Handel gab, war es bereits „zerrissen“. Der Diskurs soll hier anhand einer Analyse von bekannten deutschen Zeitschriften dokumentiert werden. Doch zunächst zum zentralen Thema der Kontroverse: der Kollektivschuldthese.

Sofort wurde Goldhagen mit dem Vorwurf, er wolle den Deutschen eine Kollektivschuld unterstellen, konfrontiert. Doch sowohl explizit formuliert im Buch („Die Vorstellung einer Kollektivschuld lehne ich kategorisch ab.“, D. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, S. 11) als auch durch seine Methode, nämlich die einzelnen handelnden Individuen und ihre je subjektive Motivation in den Fokus der Analyse zu rücken, widerspricht Goldhagen jeder Form von Kollektivschuldthese. Goldhagen betont(e) immer wieder, dass sich die Deutschen nach 1945 geändert hätten und verneint eindeutig die Vorstellung eines unveränderlichen Nationalcharakters. Dennoch: „Als erste Reaktion auf `Hitlers willige Vollstrecker´ bildet sich in der deutschen Presse ein spontaner und breiter Abwehrkonsens.“ (M. Kött, Goldhagen in der Qualitätspresse, S. 13) Die Kritik ist allerdings weniger an inhaltlichen Mängeln als an der Person Goldhagen bzw. der wissenschaftlichen Qualifikation ausgerichtet. Wolfgang Wippermann sah dabei „nationalistische und einig subtil formulierte, aber dennoch erkennbare antisemitische Motive maßgebend“ (W. Wippermann, Goldhagen und die deutschen Historiker, S. 14, in: J. Elsässer, A. S. Markovits, Die Fratze der eigenen Geschichte) für diese Reaktionen an. Immer wieder werde auf die (amerikanisch-jüdische) Herkunft Goldhagens verwiesen und gerade mit dem Hinweis auf die angeblich formulierte Kollektivschuldthese das Motiv des „rachsüchtigen Juden“ heraufbeschworen. Wippermann betont, dass die Mär der Kollektivschuld eine Goebbelssche Propaganda gegen Ende des Krieges war.

Auf konservativer Seite wurde das Buch von Goldhagen vollständig abgelehnt. Peter Gauweiler von der CSU sprach im „Bayern Kurier“ (Ein deutsches Phänomen, 12.10.1996) vom „umgekehrten Rassismus“ Goldhagens (M. Kött, Goldhagen in der Qualitätspresse, S. 16). Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, die ja durchaus als Sprachrohr des deutschen Konservativismus angesehen werden kann, lehnt Goldhagens Buch von Anfang an ab. Dabei greift man – neben der Person Goldhagen – immer wieder die angebliche Kollektivschuldthese an. Darüber hinaus verneint man permanent den antisemitischen Charakter der (damaligen) deutschen Durchschnittsbevölkerung.

In der eher liberalen „Süddeutschen Zeitung“ kommen primär Historiker zu Wort, die das Buch inhaltlich ablehnen. Lediglich Hans Mommsen erkennt in Goldhagens Buch wenigstens eine Herausforderung, die Mentalität der „normalen Deutschen“ zu erforschen. Die Berichterstattung ist ausgewogener als in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und darüber hinaus erkennt man auch einen Wandel von Ablehnung hin zu einer Diskussionsbereitschaft. Dennoch blieb auch die „Süddeutsche Zeitung“ zunächst vom Abwehrreflex beherrscht.

In der linksliberalen „Frankfurter Rundschau“ dominiert zu Beginn ein „eindeutig feindlicher Tenor gegenüber Amerikanern im allgemeinen und amerikanischen Juden im besonderen.“ (ebda., S. 74) In der Berichterstattung dieser Zeitung ließ sich der stärkste Wandel feststellen. Wurde das Werk zu Beginn als „amerikanisch-jüdische Provokation“ (ebda., S. 75) bezeichnet, konzentrierte sich die „Frankfurter Rundschau“ später auf die Rezension und Reaktionen in Deutschland. Das Buch wurde vor dem „politischen Hintergrund der neuen deutschen Identitätssuche betrachtet und als `Störfaktor´ deutscher `Normalisierungsphantasien´ begrüßt.“ (ebda., S. 75)

Im deutschen Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL“ wurde ebenfalls mit Abwehr reagiert. Während man einerseits Goldhagen vorwarf, als Sohn eines Holocaust-Überlebenden keine Objektivität in diesem Thema wahren zu können, diente dasselbe Charakteristikum (Kind von Überlebenden) dem „SPIEGEL“ dazu, Norman Finkelsteins Kritik für objektiv zu erklären, da er keine „Ambitionen“ mit seinen Attacken verbindet. (siehe: M. Klundt, Geschichtspolitik, S. 31) Der „SPIEGEL“-Herausgeber Rudolf Augstein unterstellt Goldhagen in einem Artikel letztlich niedere Motive. Inhaltlich gebe das Buch nichts her. Goldhagen sei ein „verhinderter Historiker“ (R. Augstein, Der Soziologe als Scharfrichter, S. 109, in: J. Schoeps (Hg.), Ein Volk von Mördern?) und die Behauptung, dass der deutsche Antisemitismus vor Hitler bereits auf Ausrottung ausgerichtet war, sei „ignorant, wenn nicht gar bösartig.“ (ebda.)

Fazit

Der einzige Fachhistoriker, der sich in dieser Debatte eindeutig auf die Seite Goldhagens geschlagen hat, „bin nach den Worten von Hans Mommsen ich.“ So charakterisiert Wolfgang Wippermann die Situation während der Goldhagen-Debatte in Deutschland. Von rechts bis links dominierte (zumindest am Anfang) die einhellige Ablehnung des Buches und seiner Thesen, obwohl es in Deutschland zu diesem Zeitpunkt nur durch den kurzen Vorabdruck in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ bekannt war. Wippermann diagnostiziert eine Historikerzunft, die in ihrer Berufsehre gekränkt wurde: Ein amerikanischer Juniorprofessor tritt mit Thesen auf, die von einer breiten Öffentlichkeit (auch und gerade in den USA) heftig diskutiert wurden. Statt einer wissenschaftlichen Diskussion, „haben sie Goldhagen erst aus vornehmlich politischen Motiven scharf angegriffen, dann seine wissenschaftliche Reputation systematisch und leider erfolgreich untergraben und ihn schließlich als bloßes Medienereignis abgewertet“ (W. Wippermann, Goldhagen und die deutschen Historiker, S. 24, in: J. Elsässer, A. S. Markovits, Die Fratze der eigenen Geschichte). Erwähnenswert ist sicherlich die Tatsache, dass sich einige Zeitungen bzw. publizierte Artikel im Laufe der Debatte wandelten und sich auf die Rezension hier in Deutschland konzentrierten. Auch wenn inhaltliche Ablehnung bis Skepsis zumeist weiter vorhanden waren, ging man doch wenigstens (zumindest im linken Lager) dazu über, die Thesen zu diskutieren.

Mittlerweile kann niemand mehr ernsthaft behaupten, dass die Deutschen ausschließlich aus Zwang töteten oder nichts von den Massenmorden wussten. Im Gegenteil: Spätestens seit Goldhagen ist klar, dass die Deutschen durchaus freiwillig „mitmachten“, dass es keine Strafen gab, wenn man sich weigerte, die Mordbefehle auszuführen (dies bestätigt z. B. auch Christopher Browning) usw. Weitergehende Forschungen wie Götz Alys „Hitlers Volksstaat“, Robert Gellatelys „Hingeschaut und Weggesehen“ und andere Bücher sowie z. B. die Erkenntnisse der sog. „Wehrmachtsausstellung“ bestätigen diese Sichtweise.

Auch die Bedeutung des Antisemitismus kann in der Geschichte der deutschen Nation (damit ist keineswegs nur die NS-Zeit gemeint!) nicht – mehr – ausgeblendet werden. Die Konstruktion „des Juden“ wurde der Konstruktion „des Deutschen“ diametral entgegengesetzt. Während „das Jüdische“ für alles Negative verantwortlich gemacht wurde, diente „das Deutsche“ dazu, alles Positive zu charakterisieren. (siehe dazu: A. Pfahl-Traughber, Antisemitismus in der deutschen Geschichte)

Goldhagens Buch ist und bleibt ein wichtiger Beitrag, um sich ein Bild des Geschehenen zu machen. Natürlich gab es völlig berechtigte Kritik an dem Buch. Ob die u. a. von Christopher Browning geäußerten Taten von Kollaborateuren, die allgemeine Verrohung von Menschen in Kriegssituationen, die Entmenschlichung des „Anderen“ oder die Autoritätshörigkeit des Subjekts. Dies ist alles richtig und wichtig. Aber die Shoa ist eine singuläre, durch Deutsche initiierte Tat. Diese Tatsache sollte in einer seriösen Kritik das Fundament darstellen. Die Debatte um das Buch in Deutschland zeigte aber, wie notwendig es war.

Autor: Jochen Böhmer

Literatur

Browning, C., Ganz normale Männer, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek b. Hamburg, 6. Auflage, 2005

Elsässer, J./Markovits A., Die Fratze der eigenen Geschichte, Elefanten Press Verlag GmbH, Berlin, 1999

Goldhagen, D. J., Briefe an Goldhagen, Siedler Verlag GmbH, Berlin, 1997

Goldhagen, D. J., Hitlers willige Vollstrecker, W. Goldmann Verlag, München, Taschenbuchausgabe, 2000

Klundt, M., Geschichtspolitik, PapyRossa Verlags GmbH & Co. KG, Köln, 2000

Kött, M., Goldhagen in der Qualitätspresse, UVK Medien Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz, 1999

Pfahl-Traughber, A., Antisemitismus in der deutschen Geschichte, Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, Berlin, 2002

Schoeps, J. H. (Hg.), Ein Volk von Mördern?, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 2. Auflage, 1996

Ähnliche Beiträge:

  • Eichmann in Jerusalem – 60 Jahre später: Der Versuch einer Bestandsaufnahme (2. Teil)
  • Der letzte Kronprinz Wilhelm von Preußen, nur ein „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte?
  • Die Walser-Bubis-Kontroverse
  • „Liberators“ ohne Ende – und ohne Ende „Liberators“ ...
  • Eichmann in Jerusalem – 60 Jahre später: Der Versuch einer Bestandsaufnahme (1. Teil)
Die Goldhagen-Debatte in Deutschland - eine Zusammenfassung | ZbE (2024)
Top Articles
Latest Posts
Recommended Articles
Article information

Author: Trent Wehner

Last Updated:

Views: 6202

Rating: 4.6 / 5 (56 voted)

Reviews: 95% of readers found this page helpful

Author information

Name: Trent Wehner

Birthday: 1993-03-14

Address: 872 Kevin Squares, New Codyville, AK 01785-0416

Phone: +18698800304764

Job: Senior Farming Developer

Hobby: Paintball, Calligraphy, Hunting, Flying disc, Lapidary, Rafting, Inline skating

Introduction: My name is Trent Wehner, I am a talented, brainy, zealous, light, funny, gleaming, attractive person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.